“Junge Welt”, 5.6.2023
»Andreas Ehrholdt trat eine Lawine los«
Der Woltersdorfer Aktivist und Initiator der Montagsdemos gegen Hartz IV ist gestorben. Ein Gespräch mit Martin Keßler
Interview: Gitta DüperthalAndreas Ehrholdt, der 2004 die Montagsdemos gegen Hartz IV initiiert hatte, ist vor wenigen Tagen verstorben. In dieser Woche soll er in seinem Heimatsort Woltersdorf bei Magdeburg beerdigt werden. Sie haben die Entwicklung der von ihm mit angestoßenen Anti-Hartz-IV-Bewegung als Filmemacher begleitet. Wie haben Sie seine Wirkkraft erlebt?
Andreas Ehrholdt war ein zentraler Protagonist unseres 2005er Dokumentarfilms »Neue Wut« über die Montagsdemos gegen Hartz IV. Der arbeitslose Bürokaufmann aus Magdeburg hatte 2004 die Idee, immer montags mit einem Transparent vorm Dom dort gegen Hartz IV zu protestieren. Zunächst demonstrierten dort 600 Menschen spontan mit ihm, wenig später 6.000, dann 15.000. Das Magazin Spiegel hatte ihn zum »Helden von Magdeburg« erklärt; aber, wie die Mainstreammedien so sind, auch schnell wieder vergessen. Nun verstarb er nach schwerer Krankheit. Er wollte die Gesetzgebung kippen und trat damit eine Lawine los.
Das Gesetz, das für viele Menschen prekäre Verhältnisse und Entwürdigung bedeutete, blieb in Kraft – weshalb?
Nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch im Westen kamen innerhalb von Wochen große Demonstrationen zustande. Ob ATTAC, lokale Gewerkschaftsgruppen oder Sozialverbände: Viele schlossen sich den Protesten an. Die Bewegung war aber uneinheitlich. Man versuchte in Leipzig und in Berlin, Strategien für maßgebliche Widerstandskraft zu entwickeln, doch die Gewerkschaften wollten nicht zentral dazu aufrufen. Der damalige DGB-Vorsitzende Michael Sommer sagte mir 2004 im Interview, andernfalls wäre es nicht zu der Gesetzgebung gekommen. Langzeitwirkung des Widerstands war, dass sie einen Resonanzboden für die Linkspartei schuf. Oskar Lafontaine steuerte im August 2004 die Erkenntnis bei: Wenn wir als Linke nicht in der Lage sind, diesen Menschen zu helfen und Hartz IV zu stoppen, werden die Rechten den Protest instrumentalisieren.
Es war, wie der Spiegel damals schrieb, »der Aufstand der Normalos«. Der mit Hartz IV verbundene soziale Abstieg schien bedrohlich. Gerade im Osten sahen die Menschen darin eine Abwertung ihrer gesamten Biographie. Andreas Ehrholdt hat das repräsentiert. Später hieß es, die Montagsdemonstrationen seien rechts unterwandert – zunächst ein Versuch, die Proteste zu diskreditieren. Im November 2004 gründete Andreas Ehrholdt eine neue Partei, »Freie Bürger für soziale Gerechtigkeit«, die aber nie übers Hinterzimmer hinauskam. Der Linkspartei aber half das Ganze beim Einzug ins Parlament.
Wieso verschwand die Bewegung von der Bildfläche?
Weil die Gewerkschaftsspitze sich weigerte, die Bewegung aufzunehmen, blieb es dabei, dass sie Unmut artikulierte. Immerhin aber brachte sie Hartz IV derart in Verruf, dass es die SPD seither bei Wahlen ständig Stimmen kostete. Andreas Ehrholdt lobte, dass auch nach der »Wende« nicht alle mit spitzen Ellenbogen rumliefen, sondern solidarisch blieben. Er bedauerte aber, dass es nicht gelang, zwischen Menschen am unteren Ende der Gesellschaft – Geflüchteten und vom Prekariat betroffenen Deutschen – einen Zusammenschluss zu schaffen. Nur so wäre es möglich, etwas zu ändern.
Wie kam es, dass diese linke Bewegung mit der Zeit nach rechts regredierte?
Anfangs waren einige Rechte da, aber nicht in relevanter Zahl. Pegida gründete sich erst zehn Jahre später. Der Vorwurf an die Gewerkschaftsspitzen und andere, die den Protesten kein Gewicht gaben, lautete, den Rechten so den Raum überlassen zu haben. Andreas Ehrholdt konstatierte enttäuscht, dass die Menschen oft auch egoistisch seien.
War sein Engagement also vergebens?
Nein. Der Widerstand ist nicht gescheitert. Er hielt über mehr als ein Jahrzehnt an. Der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach erklärte Hartz IV als Verfahren, Armut zu individualisieren und Solidarität zu entkräften. Ein Triumph des Neoliberalismus. Heute befinden wir uns an einem Punkt, an dem deutlich wird, welche Zerstörungskraft all dies beinhaltet. Andreas Ehrholdt ist dafür zu würdigen, dem entscheidend entgegengewirkt zu haben.
Martin Keßler ist Filmemacher. Für seine Dokumentarfilmreihe »Neue Wut« begleitete er den Aktivisten Andreas Ehrholdt bei Hartz-IV-Protesten seit 2004 mit der Kamera