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Warum Martin Keßler seinen Film „Reise in den Herbst“ für alle auf Youtube zugänglich macht.

Wie stark werden die Rechtsextremen? Der Frankfurter Filmemacher Martin Keßler beschäftigt sich seit langem mit dem Thema. Seinen richtungweisenden Film „Reise in den Herbst“ von 2017 zeigt er vor der Bundestagswahl kostenlos auf Youtube
Herr Keßler, wir haben voriges Jahr zur EU-Wahl über den Vormarsch der Rechtspopulisten gesprochen. Keine neun Monate sind vergangen. Was hat sich seither getan?

Die Lage hat sich noch verschärft, wenn man etwa nach Österreich guckt. Und ja, auch in Frankreich und natürlich auch in Deutschland. Ich hätte nicht erwartet, dass das so schnell geht. Das Ganze kriegt auch wieder einen Push durch Trump.

So wie 2017 in ihrem Film, als Sie am Tag nach dem ersten Amtsantritt Trumps die Reaktionen von Rechtspopulisten beobachteten. Damals sagte AfD-Funktionär André Poggenburg: „AfD wirkt“, andere Parteien hätten ihre Positionen übernommen.

Das sagte auch Alice Weidel, als sie am Sonntag bei Miosga in der Talkshow war.

Viele haben abgeschaltet.

Ich sehe mir das an, um es einordnen zu können. Und sie haben nicht Unrecht in der Frage der Wirkung. Unser Film damals endete mit dem Einzug der AfD in den Bundestag mit zwölf Prozent. Da sagt Gauland, die CDU hat einen Riesenfehler gemacht, dass sie so viel Platz rechts gelassen hat. Das ist im Grunde genommen, was jetzt passiert: dass diese Position wieder besetzt wird von der CDU.

Stärkt die Union mit ihrem Verhalten rechte Positionen?

Ja, das wird ja schon als Tabubruch gewertet und das würde ich auch so sehen. Antisemitismusforscher Wolfgang Benz hat uns für den Film gesagt, wenn die Parteien der Mitte diese Rechten nicht stoppen, dann wird es gefährlich. Und diese Situation tritt ja jetzt ein. Wir brauchen europäische Lösungen, eigentlich brauchen wir planetare Lösungen, wenn man den Klimawandel sieht. Es ist wie ein Kopf-in-den-Sand-stecken, wenn man jetzt auf Orientierungspunkte zurückgreift wie den Nationalstaat, der angeblich Sicherheit schafft.

Vor der Europawahl 2024 sprachen wir darüber, ob die Massendemonstrationen am Wahlergebnis der AfD nagen würden. Sie kam auf 15,9 Prozent, inzwischen ist sie in Umfragen viel stärker.

Man hat kurzfristig gesehen, dass sie um zwei oder drei Prozentpunkte gesunken ist. Was momentan passiert, nutzt der AfD total, weil ja klar ist, das sind ihre Positionen, die die CDU zum Teil übernommen hat – und die Parteien der sogenannten Mitte sind nicht in der Lage, sich zu einigen. Warum konzentriert man sich jetzt so auf diese Frage des Asyls? Für mich ist das Ausdruck des Kulturkampfs, der stattfindet. In den USA kann man sehen: Das ist mit weiterer Polarisierung verbunden.
Zu Person & Film

Martin Keßler, 71, arbeitet als freier Fernsehjournalist. Schwerpunkte sind Berichte, Reportagen, Dokumentationen zu Sozial- und Wirtschaftsthemen. Seine Reihe „Neue Wut“ greift politische und Umweltthemen auf, etwa Naturzerstörung in Brasiliens Urwald.

Sein Film „Reise in den Herbst“ (142 Minuten) thematisiert welt-, und bundespolitische Themen und auch Frankfurter Belange, etwa die „Pulse of Europe“-Kundgebungen oder einen Besuch in der Gallusgarten-Gemeinschaft. Zu sehen unter youtu.be/-XQAB6O5Y14

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Wir haben seinerzeit in dem Film gezeigt, dass es um viele strukturelle Probleme geht: die Situation auf dem Wohnungsmarkt, hier am Beispiel Frankfurts, die Krise der Automobilindustrie am Beispiel Opel oder die Krise in der Stahlindustrie. Wenn man sieht, wie viele Zehntausend Arbeitsplätze verlorengehen und in der nächsten Zeit noch verlorengehen werden: Was das an Unruhepotential ist. Viele Leute haben einfach Angst vor Absturz.

Sie sprechen vom Kulturkampf, den Film hatten Sie untertitelt mit „Zeitenwende“.

Zu einem Zeitpunkt, als der Begriff noch gar nicht in dem anderen Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg benutzt wurde. Natürlich sind wir an so einem Punkt. Historiker sprechen von einem Epochenbruch, und wir haben eine grundlegende Transformation vor allen Dingen wegen des Klimawandels – das ist die Hauptherausforderung. Und da helfen keine Konzepte nationaler Identität.

Sondern?

Menschenrechte, Humanität, Aufklärung – wo ist das alles geblieben? Wo sind positive Utopien in einer Zeit, da die globalen Probleme drängender werden, da es um die Existenz der Menschheit geht? Warum ist davon so wenig die Rede? Es ist ein gutes Zeichen, dass jetzt so viele Leute auf die Straße gehen, aber das allein wird diese Entwicklung nicht stoppen. Wir müssen uns wieder auf andere Werte besinnen. Das haben wir ja im Film an dem Beispiel in Nürnberg gezeigt, wo Berufsschüler sich dagegen wehren, dass ihr Klassenkamerad nach Afghanistan abgeschoben wird. Ich denke, solche Formen zivilen Ungehorsams werden auch stärker kommen.

Sie haben den Film damals in zahlreichen Kinos gezeigt und positive Resonanz darauf bekommen. Jetzt bringen Sie ihn erstmals öffentlich auf Youtube. Warum?

Der Film ist wie eine Folie, auf der man sehen kann, was in den letzten Jahren passiert ist. Er endet mit dem Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag, es geht um Donald Trump, man sieht Le Pen, Geert Wilders, Salvini. Solche Leute sind jetzt zum Teil in Regierungen. Vieles ist heute so schnelllebig – daran möchte ich erinnern, mit dem historischen Blick und dem Versuch der Einordnung, jetzt, vor der nächsten richtungsweisenden Wahl. Zeigen, dass das alles eine Vorgeschichte hat und dass um grundlegende Veränderungen gestritten werden muss. Wenn man es sich jetzt gemütlich macht und vielleicht hin und wieder mal auf eine Demonstration geht, das wird das Problem nicht lösen.

Wie ist das für Sie, wenn Sie auf Demonstrationen filmen? Fühlen Sie sich in Gefahr, haben Sie bei Ihrer Arbeit schon Gewalt erlebt?

Ich habe mal bei Pegida gedreht in Dresden, da ging eine Frau, Mitte 70, Pelzmäntelchen, mit dem Regenschirm auf mich los. In Hamburg bei den G20-Protesten und auch anderswo wurde es schon brenzlig, aber dann muss man versuchen, dass man trotzdem die Bilder bekommt und sich nicht in so einer Gefahrensituation zu lange aufhält.

Wie sehen Sie die mediale Resonanz momentan, beispielsweise auf die Proteste vom Wochenende?

Noch letzte Woche ist mir aufgefallen, dass zwar Demobilder gezeigt wurden, die Demonstrierenden selbst jedoch nicht zu Wort kamen. Jetzt hat sich das etwas verändert. Auch die Tagesschau hat diesmal mit den Protesten aufgemacht. Aber bisher habe ich keine Talkshow gesehen, in die Demonstrierende als Talkgäste eingeladen wurden. Es sind meist Leute wie Robin Alexander von der „Welt“ oder die immer gleichen Parteipolitiker.
Regisseur Martin Keßler.