Der »Mythos« macht die Drecksarbeit Der Dokumentarfilmer Martin Keßler begleitet den indigenen Widerstand gegen Bolsonaro
Die Frauen und Männer des indigenen Widerstands in Amazonien sind mutig. Sie wissen, dass sie gar keine andere Chance haben, als gemeinsam Widerstand zu leisten, weil ihnen ihre Lebensgrundlage genommen wird. »Seit über 500 Jahren kämpfen wir gegen unsere Ausrottung«, sagt Alessandra vom Indigenenstamm der Munduruku, »da werden wir uns doch jetzt nicht einem wie Bolsonaro ergeben!«
Jair Bolsonaro, ehemaliger Armeehauptmann, Faschist und seit dem 1. Januar neuer Präsident Brasiliens, will große Flächen des Landes dem Agrobusiness und internationalen Minenkonzernen ausliefern. Davon handelt der sechste Teil des dokumentarischen Langzeitprojektes »Countdown am Xingu« von Filmemacher Martin Keßler. In Brasilien wird Klassenkampf von oben geführt. Am 22. März wurde die 45jährige Widerstandskämpferin Dilma Ferreira Silva in Tucuruí im Bundesstaat Pará ermordet. Sie war im ersten »Countdown«-Film »Eine andere Welt ist möglich – Kampf um Amazonien« (2009) zu sehen. Nach einem Bericht der Kommission für die Landpastoral
der brasilianischen Bischofskonferenz (CPT, »Pastoral« bedeutet »Seelsorge«), die Kleinbauern dort gegen die Gier der Großgrundbesitzer unterstützt, wurde die Menschenrechtsaktivistin gemeinsam mit ihrem Ehemann und einem Freund der Familie geknebelt, gefoltert und erstochen. Sie war in den Reihen der MAB (Movimento dos Atingidos por Barragens) eine Fürsprecherin für die vom Bau von rund 2.000 Staudämmen betroffenen Menschen. »Sie war besonders glaubwürdig, weil sie selbst in der Region aufwuchs, als der Tucuruí-Damm vor 30 Jahren gebaut wurde«, so Martin Keßler. »Dieses Verbrechen soll wohl von Protesten abschrecken.«
Antonia Melo vom »Protestbündnis Xingu« lebe ebenso gefährlich, meint der Regisseur. Sie ist die Protagonistin seines aktuellen Films. Bolsonaro habe bereits in seinem Wahlkampf 2018 signalisiert, dass es einen Freibrief für Großgrundbesitzer gebe, das Land der Indigenen unter sich aufzuteilen. Private Bewaffnung habe seither zugenommen. Der Präsident habe eine hybride Regierungsform aus Militärdiktatur und formaler Demokratie auf den Weg gebracht. Letztlich mache er bloß die Drecksarbeit für Konzerne wie Siemens. Keßler will bei den Filmaufführungen in Deutschland über eine »Desinvestment-Kampagne« diskutieren: »Die Verursacher müssen an den Pranger.«
Martin Keßler war mit der Kamera dabei, als am 1. Januar der frisch vereidigte Präsident im offenen Rolls-Royce Huldigungen entgegennahm. »Mito, Mito« (»Mythos, Mythos«), schreien die Bolsonaro-Fans, posieren fähnchenschwingend und heben Bierhumpen. Aber es gibt auch die anderen, die ums Überleben kämpfen. »Die Polarisierung und die Spaltung der Bevölkerung sowie eine mediale Inszenierung dessen sind ein Mittel solcher Patriarchen, an die Macht zu kommen«, sagt Keßler. Er wird mitunter dafür kritisiert, politische Konflikte in seinen Filmen nach einem Gutund-böse-Schema darzustellen. Doch es entspricht der Realität: Wenn eine Demokratie zur Diktatur wird, erübrigt sich manch anderes Stilmittel. Gitta Düperthal »Countdown am Xingu VI – Raubzug nach Amazonien«, Regie: Martin Keßler, 2019, 40 Min.