In einem Schwerpunktheft zu “Amazonien” berichtet die Zeitschrift “ila” ausführlich über unser dokumentarische Langzeitbeobachtung zu dem Magstaudamm “Belo Monte”:
Im Jahr 2009 stellte der Frankfurter Filmemacher Martin Keßler seine erste Dokumentation über den Bau des Großstaudamms Belo Monte am Rio Xingú, einem Nebenfluss des Amazonas, vor. Er ließ es aber nicht bei diesem einen Film bewenden, sondern begann eine Langzeitbeobachtung, reiste immer wieder in die Region und brachte in Abständen von ein bis zwei Jahren neue Filme über die vorgefundenen Entwicklungen heraus. Soeben wurde sein neuestes Werk „Count-Down am Xingú VI – Raubzug nach Amazonien“ fertig. Gert Eisenbürger berichtet über Martin Keßlers filmische Arbeit in der brasilianischen Amazonasregion und den Inhalt des neuen Films. I VON GERT EISENBÜRGER m Januar 2009 fand in der an der Amazonasmündung gelegenen Stadt Belém das Weltsozialforum statt. Stärker als die vorherigen Sozialforen im südbrasilianischen Porto Alegre lenkte es den Blick auf die fortschreitende Zerstörung der Wälder und Lebensräume der indigenen Gruppen in der Amazonasregion. Keßler hatte für seinen Film damals sowohl auf dem Forum in Belém als auch am Rio Xingú gedreht, wo nach dem Willen der damals von der Arbeiterpartei PT geführten brasilianischen Regierung mehrere Großkraftwerke gebaut werden sollten. Die Planungsarbeiten für den größten Staudamm, Belo Monte, waren bereits weitgehend abgeschlossen, aber die Flußanwohner*innen, die Indigenen und die Umweltschützer*innen aus der Region hofften, den Bau noch verhindern zu können. Dafür nutzten sie natürlich das Weltsozialforum als Plattform, um den dort versammelten Vertreter*innen sozialer Bewegungen aus der ganzen Welt deutlich zu machen, dass die Großstaudämme am Xingú keineswegs Entwicklung für die Region bedeuteten, wie es die Regierung in Brasilia glauben machen wollte, sondern die Lebens- und Entwicklungsperspektiven vieler Menschen zerstörten, die am, vom und mit dem Rio Xingú leben, sei es als Bauern und Bäuerinnen, Fischer, Bootsbauer oder Goldsucher. Eine ganze Reihe von ihnen, darunter auch zahlreiche Repräsentant*innen indigener Gemeinschaften, machten sich per Boot nach Belém auf, um über ihre Situation zu berichten und durch ihre Präsenz auch Druck auf die PT-Regierung auszuüben. Schließlich hatten auch sie die PT in der Hoffnung auf eine Politik im Sinne der sozial Benachteiligten gewählt. Aus dem Material, das Keßler auf dem Weltsozialforum und am Rio Xingú gedreht hatte, stellte er seinen 96-minütigen Dokumentarfilm „Eine andere Welt ist möglich – Kampf um Amazonien“ zusammen. Der Filmtitel „Eine andere Welt ist möglich“ war seinerzeit das Motto der Weltsozialforen und überhaupt der Bewegungen, die die Intention und den Verlauf der kapitalistischen Modernisierung in Frage stellten, allen voran das zunächst in Frankreich entstandene und später in vielen weiteren Ländern aktiv globalisierungskritische Netzwerk Attac.
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Filme gegen die Zerstörung
Martin Keßler verfolgt seit mehr als zehn Jahren die Folgen des Staudammbaus am Rio Xingú in Amazonien
Der Film war der Auftakt einer von Keßler als „Langzeitbeobachtung“ bezeichneten filmischen Beschäftigung mit der Region und seiner Auseinandersetzung mit einem Entwicklungsmodell, das weit mehr Verlierer*innen als Gewinner*innen produziert. Seit 2011 erschienen sechs weitere Filme mit dem Obertitel „CountDown am Xingú“. Der letzte mit dem Untertitel „Raubzug nach Amazonien“ wurde gerade fertig. Langjährige ila-Leser*innen werden sich wahrscheinlich an den Film „Count-Down am Xingú II“ über den Baubeginn von Belo Monte und den anhaltenden Widerstand dagegen erinnern, der vor genau sieben Jahren, im Mai 2012, der ila 355 als DVD beigeheftet war. Sozusagen „außer der Reihe“ erschien 2015 der Film „Count-Down am Tapajós“ über den Widerstand gegen die sieben geplanten Großstaudämme am Rio Tapajós, einem anderen Nebenfluss des Amazonas. Die Filme sind unterschiedlich lang. Der längste, „Countdown am Xingú V – Der Kampf gegen Megastaudämme und Korruption in Brasilien“ von 2016, hat Spielfilmlänge und lief im Hauptprogramm von Programmkinos, andere sind deutlich kürzer. Der gerade fertig gestellte läuft 37 Minuten und ist von daher sehr gut zum Einsatz in Bildungs- und Informationsveranstaltungen geeignet. D ie ersten Minuten von „Count-Down am Xingú VI – Raubzug nach Amazonien“ zeigen keine Bilder aus der Amazonasregion, sondern aus der Hauptstadt Brasilia, konkret von der Amtseinführung des neuen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro am 1. Januar dieses Jahres. Dabei sieht man Bolsonaro unter anderem bei seiner Rede vor dem Kongress und seiner Ansprache vor jubelnden Anhänger*innen. Im Film kommen einige von ihnen zu Wort. Begeistert erklären sie, Bolsonaro sei ein Mythos, mit ihm kehrten Ordnung und Sicherheit nach Brasilien
zurück. Überhaupt werde nun alles gut, meinten interviewte Männer und leerten danach in Ballermann-Manier einen Humpen Bier. Ich hatte davor noch keine längeren Sequenzen von Reden Bolsonaros gesehen und war überrascht, dass dieser steife, hölzern wirkende Typ, der alles, was er sagte, ablesen musste, so viele Brasilianer*innen überzeugen oder zumindest bewegen konnte, für ihn zu stimmen. Nach diesem Ausflug in Brasiliens schicke Hauptstadt geht es an den Rio Xingú. Wer schon mehrere Filme aus Keßlers Langzeitbeobachtung gesehen hat, wird „alte Bekannte“ wiedertreffen, etwa Antônia Melo, eine der Sprecherinnen der Bewegung Xingú Vivo, oder den aus Österreich stammenden Dom Erwin Kräutler, den langjährigen Bischof der unweit des Staudamms gelegenen Stadt Altamira. Der engagierte Befreiungstheologe hat kürzlich aus Altersgründen sein Bischofsamt niedergelegt, ist aber weiterhin einer der Protagonisten der Protestbewegung und als solcher immer noch gefährdet, sodass er das Haus nur in Begleitung von Bodyguards verlassen kann. Zunächst sind Martin Keßler, der bei seinen Filmprojekten selbst auch die Kamera führt, und der Tontechniker Ricardo Pereira mit Cleanton Curioso vom Katholischen Indigenenmissionsrat CIMI unterwegs. Anders als der Name vielleicht vermuten lässt, ist der CIMI nicht wie viele evangelikale Missionswerke primär darauf aus, Indigene zu missionieren und von ihrer Kultur und Kosmovision zu entfremden, sondern ist seit den Zeiten der Militärdiktatur (1964-1985) eine der wichtigsten Organisationen, die die Menschen-, Land- und kulturellen Rechte der Indigenen verteidigen. Cleanton Curioso erzählt, seit der Wahl Bolsonaros und noch vor dessen Amtsantritt seien Holzunternehmen vermehrt in indigenes Gebiet eingedrun
Antônia Melo, Sprecherin der Bewegung Xingú Vivo, mit Filmemacher Martin Keßler und Tontechniker Ricardo Pereira
FOTO: JOÃO SINDER
FOTO: MARTIN KESSLER FILMPRODUKTION
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gen. Sie legten illegale Straßen an und schlügen Holz ein. Dies sei gleich doppelt illegal, zum einen, weil es indigenes Land sei, zum anderen, weil viele der geschlagenen Hölzer unter Naturschutz stünden, also nirgendwo in Brasilien geschlagen werden dürften. Weiter zeigt Curioso Markierungen, die in den letzten Wochen angelegt worden seienn, um Land zu roden und zu parzellieren. Auch dies sei illegal auf indigenem Land, aber die Holz- und Landräuber fühlten sich durch Äußerungen des neuen Präsidenten bestärkt,
wenn er behaupte, die Indigenen hätten ohnehin zuviel Land, das endlich einer produktiven Nutzung zugeführt werden müsse. Kein Wunder, dass sich auch die Polizei nicht für die illegalen Praktiken interessiert. Hatte Bolsonaro nicht mehr Sicherheit versprochen? Aber Sicherheit für wen? Im nächsten Schnitt berichtet Antônia Melo vom Bündnis Xingú Vivo, es sei genau das eingetreten, was die Kritiker*innen von Belo Monte immer vorausgesagt hatten, nämlich dass die von der Regierung und dem Elektrizitätskonzern Norte Energia behauptete Leistung des Kraftwerks eine Chimäre sei. Nur während der Regenzeit, wenn der Fluss sehr viel Wasser führe, läge die Stromerzeugung in etwa im angestrebten Rahmen; in der Trockenzeit werde dies nicht annähernd erreicht. Das Filmteam begleitet Antônia Melo beim Besuch eines Dorfes, das durch ein neues Großprojekt gefährdet ist. Die Menschen dort leben vom Goldwaschen. Mit einfachster Technologie extrahieren sie aus dem Flussschlamm in schwerer Arbeit jeweils einige Gramm Gold. Davon werden sie nicht reich, aber zusammen mit etwas Landwirtschaft kommen sie ganz gut über die Runden. Nun möchte die Regierung die Konzession zum Goldabbau an ein kanadisches Unternehmen verkaufen, das dort Gold im Tagebau fördern will. Die Goldwäscher erzählen, dass der Konzern auf acht Kilometern Erde und Gestein abtragen wolle, wodurch ein kilometertiefer Krater entstünde. Das würde den Wasserverlauf in der ganzen Region verändern. Schon jetzt sei ein Seitenarm des Xingú für die industrielle Goldförderung trocken gelegt worden. Zudem fürchten sich die Leute vor dem Quecksilber und den Chemikalien, die im Goldbergbau eingesetzt werden, um das Gold aus dem Gestein zu lösen. Diese könnten schwere Schäden für das Ökosystem des Xingú verursachen, eine keineswegs unbegründete Sorge, wie wir aus anderen Regionen wissen, in denen Gold gefördert wird. Nach dem Besuch bei den Goldsuchern führt uns der Film zu einem Treffen der Bewegung Xingú Vivo, zu dem Vetreter*innen der
indigenen Gemeinden, Umweltschützer*innen, Studierende und Kirchenleute gekommen sind. Es ist die erste Zusammenkunft seit der Wahl Bolsonaros. Natürlich ist das Hauptthema, was von dem neuen Präsidenten zu erwarten ist. Nahezu alle Sprecher*innen von den Indigenen bis zu Altbischof Kräutler befürchten eine Verschärfung der Lage, auch wenn sie darauf hinweisen, dass auch die Vorgängerregierungen sich wenig um die Rechte und Belange der lokalen Bevölkerung geschert und die Proteste kriminalisiert hätten. Aber mit der neuen Regierung würden alle diejenigen ermutigt, die vor Gewalt gegen Indigene und soziale Aktivist*innen nicht zurückschreckten. Wie berechtigt solche Sorgen sind (das im Film gezeigte Treffen fand im Januar statt) zeigte sich nur zwei Monate später. Da musste Martin Keßler auf seiner Website www.neuewut.de Folgendes berichten: „Die brasilianische Aktivistin Dilma Fereira da Silva, ihr Ehemann und ein Freund der Familie wurden am 22. März 2019 brutal ermordet. Dilma Ferreira war eine Protagonistin unseres Dokumentarfilmes ‚Eine andere Welt ist möglich‘ (2009) im Rahmen unserer Langzeitbeobachtung ‚Count Down am Xingú‘. Dilma Ferreira engagierte sich in der NRO Movimento dos Atingidos por Barragens, MAB (Bewegung der von Staudämmen betroffenen Menschen) für eine Entschädigung der durch den Großstaudamm Tucurui Vertriebenen.“ Die in Amazonien tätigen sozialen und ökologischen Bewegungen gehen davon aus, dass der Mord an Dilma Fereira da Silva eine Warnung an alle war, die sich in Amazonien gegen die mächtigen, korrupten Baukonzerne und Großgrundbesitzer zur Wehr setzen. Unter dem neuen Präsidenten fühlen sich die Mörder sicher, dass ihnen nichts passieren wird, auch wenn verschiedene Menschenrechtsorganisationen und die Landpostoral der katholischen Bischofskonferenz auf eine schnelle Aufklärung der Morde drängen. B ei dem im Film gezeigten Treffen von Xingú Vivo im Januar 2019 überwog aber bei aller Sorge wegen der befürchteten Zunahme der Gewalt gegen soziale Aktivist*innen die Entschlossenheit, vor Bolsonaro und den hinter ihm stehenden Militär- und Mafiakreisen nicht zurückzuweichen. Am klarsten formuliert das im Film Alessandra, eine Vetreterin des indigenen Volkes der Munduruku: „Wir kämpfen bereits seit über 500 Jahren, da werden wir doch jetzt nicht aufgeben.“ Martin Keßlers Langzeitbeobachtung „Count-Down am Xingú“ ist in der hiesigen Berichterstattung über Lateinamerika einmalig. In Zeiten, wo andauernd kurzfristig Aufreger produziert und ebenso schnell wieder vergessen werden, ist es wunderbar, dass ein Journalist und Filmemacher seit nunmehr schon über zehn Jahren an einem Thema dranbleibt und verhindert, dass es vergessen wird. Noch dazu ein freier Filmemacher, der sich sein Geld für jeden neuen Film mühsam organisieren und zusammenbetteln muss. Deshalb sind alle, die sich für Amazonien interessieren, eingeladen, die Dokumentationen von Martin Keßler anzuschauen und sie einzusetzen. Alle Filme können erworben werden und der Autor kommt auf Einladung gerne zu Veranstaltungen. Informationen dazu und zu den einzelnen Filmen gibt es auf der Website www.neuewut.de n
Der engagierte Befreiungstheologe Erwin Kräutler
FOTO: MARTIN KESSLER FILMPRODUKTION