IntervFAZ29.9.24

Interview mit Magazin „MAIN feeling“,

Beilage „FAZ Sonntagszeitung“, 29.9.2024

Martin Keßler hat mehr als 50 Filme u.a. für ARD / ZDF / ARTE / WDR /HR gedreht. Der 70jährige Frankfurter beschäftigt sich dabei immer mit welt- und bundespolitischen Themen und mit sozialen Protestbewegungen. Seit 2004 läuft zudem sein dokumentarisches Langzeitprojekt neue WUT (www.neuewut.de) eine Mischung aus aktuellen „Momentaufnahmen“, Reportagen und analytischen Gesprächen zuletzt vor allem zu den Folgen von Wirtschafts- und Finanzkrise, Migrations– und Klimakrise, Kriegen, Rechtspopulismus für die liberale Demokratie.

Wieso NEUE Wut?

Als wir das Projekt ins Leben riefen, war die alte Wut weitgehend besänftigt durch den Sozialstaat. Damals war vom ‚Modell Deutschland‘ die Rede. Von einem starken sozialen Ausgleich. Die alte Wut über soziale Ungerechtigkeit – wie man sie noch aus dem 19. Jahrhundert kennt – war befriedet durch eine Art korporatistischem System. Ab 2004 war mein Eindruck, dass da etwas Neues entsteht, dass wieder die Wut hochkocht. Hunderttausende demonstrierten damals gegen die Agenda 2010, gegen Hartz-IV.

In den letzten Jahren hat man eher den Eindruck, die Wut hat sich auf Nebenschauplätze verirrt – wenn sie sich etwa gegen die Corona-Impfung richtet….

Wut kann sich in unterschiedlichen Formen ausdrücken und sie kommt in Wellen. Es gab die Hartz-IV-Proteste, die Studentenproteste in Hessen gegen die Studiengebühren, über die wir auch einen Dokumentarfilm gemacht haben. Es betrifft verschiedene soziale Gruppen. Oft geht es um das Gefühl, es wird einem was weggenommen. Das gilt auch für die beschützende, soziale Funktion, die der Staat hat. Doch diese Aufgabe nimmt er immer weniger wahr. Viele Menschen fühlen sich im Stich gelassen. Besonders im Moment, wo das Geschehen so komplex und unüberschaubar ist und eine Vielzahl von Krisen sich überlagert.

Das klingt, als sei Wut immer auf sozialen Ausgleich auf Fairness aus. Aber wenn man sich die Entwicklung im Osten anschaut, entzündet sie sich auch allem vermeintlich Fremden gegenüber und will Überlegenheit…

Tatsächlich ist diese Wut in den letzten Jahren von links zunehmend nach rechts gedriftet. Ich kann mich an ein Interview mit Oscar Lafontaine erinnern, das ich mit ihm 2004 in Leipzig geführt hatte. Damals war er noch in der SPD. Er sagte: Wenn es die Linke nicht schafft, diesen sozialen Protest zu kanalisieren, wird es nach rechts gehen. Genau das passiert jetzt und zwar durch alle Schichten. Das geht vom Springerstiefel bis zum Pelzjäckchen. Wie man es auch aus der Weimarer Zeit kennt. Das ist auch die Angst vor sozialer Veränderung, vor sozialem Absturz, die längst auch bürgerliche Kreise erreicht hat.

Stimmt es also, was man sagt: Dass Wut blind ist?

Das ist sicher erstmal richtig. Auf der anderen Seite ist Wut eine Emotion, mit der ich mir Luft verschaffe. Was wir auch durch unsere Filme der letzten Jahre sehen, dass in der Bevölkerung eine Repräsentanz-Lücke immer größer wird, dass viele sich durch bestehende Parteien und auch durch das politische System nicht mehr vertreten fühlen. Das mündet nicht immer in Wut – sondern auch in die Gegenseite der Medaille, in Ohnmacht. Wut mobilisiert erstmal und ich glaube, wie jedes Gefühl hat sie eine Kraft, setzt Kräfte frei. Die können zerstörerisch, ungerechtfertigt sein. Man kann sich ja auch ungerechtfertigt zurückgesetzt fühlen. Wut kann aber auch produktiv sein und sie kann sehr viel – eben auch zum Besseren – bewegen.